Donnerstag, 22. August 2013

Filmkritik: Der Fuhrmann des Todes (1921)

Nachdem sich bereits die letzten beiden Filmkritiken Klassikern der Filmgeschichte gewidmet haben, gibt es heute nun erstmals eine Kritik zu einem Stummfilm: Dem schwedischen Drama Der Fuhrmann des Todes (Originaltitel: Körkarlen) von Victor Sjöström.

In einer Silversternacht liegt die für die Heilsarmee tätige Schwester Edit (Astrid Holm) im Sterben. Sie ist an der Schwindsucht erkrankt und ihr letzter Wunsch ist es, vor ihrem Tod noch einmal mit David Holm (Victor Sjöström) zu sprechen. Doch der verwahrloste Mann sitzt trinkend mit zwei Freunden am Straßenrand und weigert sich, zu der kranken Frau zu gehen. Im darauf folgenden Kampf zwischen ihm und seinen beiden Saufkumpanen stirbt Holm und sein Geist begegnet dem Fuhrmann des Todes (Tore Svennberg). Da Holm der letzte Mensch ist, der im alten Jahr sein Leben verliert, muss er für das nächste Jahr das Amt des Fuhrmanns übernehmen und die Seelen der Verstorbenen ins Totenreich bringen. Vorher erinnert ihn der aktuelle Amtsinhaber jedoch an die Sünden, die Holm in seinem Leben begangen hat und die der Grund für diese grausame Strafe sind...

Selma Lagerlöf
Vorlage für dieses Drama mit übernatürlichen Elementen ist die 1912 erschienene gleichnamige Novelle der Schriftstellerin Selma Lagerlöf. Die Nobelpreisträgerin war Anfang des 20. Jahrhunderts eine der wichtigsten Autorinnen Schwedens und ist heute vor allem wegen ihres Kinderbuchs Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen bekannt. Doch die meisten Werke Lagerlöfs waren an eine erwachsene Leserschaft gerichtet und viele von ihnen wurden als Spielfilme adaptiert. Victor Sjöström war in dieser Zeit einer der erfolgreichsten Regisseure Skandinaviens und Der Fuhrmann des Todes war bereits das vierte Buch Lagerlöfs, das er auf die Leinwand brachte. Wie in vielen seiner Filme übernahm Sjöström die Hauptrolle selbst und spielt überzeugend einen hoffnungslosen Alkoholiker, der wegen seiner Trinksucht erst seine Familie und bald auch seine Menschlichkeit verliert. Doch auch die anderen Darsteller spielen ihre Figuren ausgesprochen realistisch, wodurch die tragische Geschichte eine sehr emotionale Wirkung bekommt. Kameramann Julius Jaenzon fängt das Geschehen in kunstvollen Bildern ein und schafft es durch einen gekonnten Einsatz von Doppelbelichtungen, dem Fuhrmann und den Seelen der Toten ein geisterhaftes Aussehen zu geben. So ergibt sich insgesamt ein auch heute noch sehr sehenswerter Film, der lediglich in der Mitte seiner Laufzeit etwas straffer hätte erzählt werden können.

Die in Deutschland bei absolut medien erschienene DVD zeigt den Film in einer restaurierten Fassung, die eine recht hohe Bildqualität liefert und bei der auch die Viragierung rekonstruiert wurde (Szenen, die tagsüber oder in Innenräumen spielen, sind also in Sepiatönen gefärbt, während Nachtaufnahmen einen leichten Blaustich haben). Die enthaltene Filmmusik, die 1995 von Elena Kats-Cherin komponiert wurde, ist sehr atmosphärisch und wirkt nur in wenigen Momenten etwas zu modern für einen fast hundert Jahre alten Film. Die deutschen Untertitel zu den schwedischen Zwischentiteln sind leider etwas zu knapp geraten, wodurch es an manchen Stellen etwas schwierig ist, der verschachtelt erzählten Geschichte zu folgen. Die deutschen Untertitel auf der aus Schweden beziehbare DVD des Svenska Filminstitutet sollen diesbezüglich gelungener sein. Außerdem ist hier eine wenige Minuten längere Fassung des Films enthalten, die vor allem das Ende noch etwas verständlicher macht. Wer das nötige Kleingeld hat, sollte also lieber zu dieser Veröffentlichung greifen.

Der Fuhrmann des Todes kann wegen seiner hervorragenden Schauspieler und den beeindruckenden Bildern auch heute noch überzeugen und ist jedem, der etwas mit Stummfilmen anfangen kann, wärmstens zu empfehlen. Lediglich kleine Längen im Mittelteil der Geschichte trüben etwas den Gesamteindruck.

Montag, 19. August 2013

Media Monday #112

Heute ist der Fragebogen des Medienjournal-Blogs ein wenig anders als sonst, denn dieses Mal geht es darum, etwas über ein prägendes Filmerlebnis aus der Jugend zu schreiben.

Meine Antworten sind fett und lila formatiert:

1. Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind/Teenager den Film Jurassic Park sah und daran, dass neben den grandiosen Special Effects, vor allem der stimmungsvolle Spannungsaufbau in der Einleitung mich tief beeindruckt hat.

2. Das hatte nicht nur zur Folge, dass ich den Film in meiner Jugend bestimmt zwanzig Mal gesehen habe und ich ein ziemlicher Dino-Fan wurde, sondern auch, dass ich, damals noch unbewusst, ein großer Fan von gut gemachten Einleitungen geworden bin.

3. In den darauffolgenden Jahren nahm meine Begeisterung für Dinosaurier langsam wieder ab, doch Jurassic Park ist immer einer meiner Lieblingsfilme geblieben.

4. Deshalb begeistern mich gut inszenierte erste Akte noch heute. Wenn es ein Regisseur schafft, mich zu Beginn überzeugend in seine Welt zu entführen, dann ist der später ausbrechende Konflikt umso spannender und mitreißende.

5. Aus diesem Grund ist Jurassic Park ohne Zweifel eines der prägendsten Filmerlebnisse für mich.

Samstag, 17. August 2013

Filmkritik: Ein Köder für die Bestie (1962)

Vor 51 Jahren, am 17. August 1962, kam der Thriller Ein Köder für die Bestie in die deutschen Kinos. Heute ist vor allem das Remake Kap der Angst von Martin Scorsese bekannt, doch auch das Original ist ein interessantes Stück Filmgeschichte.

Das Hollywood-Kino machte in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Veränderungen durch. Das Fernsehen wurde nach und nach zu einer immer bedeutenderen Konkurrenz und so hatte sich die Zahl der Kinobesucher innerhalb nur weniger Jahre halbiert. Um die Zuschauer wieder vor die Leinwände zu locken, musste die Filmindustrie es schaffen, sich auf irgendeine Weise von den in den Wohnzimmern zu empfangenden Programmen zu unterscheiden. Auf der technischen Seite führte dies zu Entwicklungen wie der endgültigen Durchsetzung des Breitbildformats, doch auch inhaltlich gab es bedeutsame Veränderungen. So verlor die Selbstzensur der amerikanischen Filmindustrie (der sogenannte Production Code) immer mehr an Bedeutung, weshalb ab Mitte der 50er Jahre deutlich expliziter mit den Themen Gewalt und Sexualität umgegangen werden konnte, als dies zuvor möglich gewesen war. Genres wie der Thriller konnten durch diese neuen Freiheiten das Publikum nun sehr viel direkter mit Sex und Gewalt konfrontieren und boten so eine Form von Unterhaltung, die auf den konservativen TV-Networks nicht zu finden war.

Ein Beispiel hierfür ist Ein Köder für die Bestie (Cape Fear), der 1962 in die Kinos kam. Protagonist des Films ist der erfolgreiche Anwalt Sam Bowden (Gregory Peck), der mit seiner Familie in einer Kleinstadt im amerikanischen Bundesstaat Georgia lebt. Eines Tages nach einer Verhandlung begegnet er Max Cady (Robert Mitchum), einem Mann, gegen den Bowden einige Jahre zuvor in einem Prozess als Zeuge ausgesagt hatte. Cady, der damals zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, macht Bowden für seine Haft verantwortlich und lässt durchblicken, dass er vorhat, sich an ihm dafür zu rächen. Cady beginnt, Bowden zu verfolgen und immer bedrohlicher in seinen Äußerungen zu werden, doch da er keine offenen Drohungen ausspricht und das bloße Nachstellen nicht strafbar ist, sind dem Gesetz bald die Hände gebunden. Schließlich muss Bowden erkennen, dass nur er selbst seine Familie gegen den erbarmungslosen Kriminellen beschützen kann...

Aus heutiger Sicht ist dieser Thriller von Regisseur J. Lee Thompson natürlich nicht mehr so spannend, wie dies für ein zeitgenössisches Publikum der Fall gewesen sein muss. Dennoch ist der Film durchaus interessant, besonders was die Form der Bedrohung betrifft, die von Max Cady ausgeht. Denn während in früheren Vertretern des Genres meistens Mord im Vordergrund stand, repräsentiert Cady vor allem die Bedrohung durch sexuelle Gewalt. So vergewaltigt der Antagonist im Laufe der Handlung eine junge Frau (Barrie Chase), die jedoch aus Angst und Scham auf eine Anzeige verzichtet. Cady macht klar, dass er nicht davor zurückschrecken würde, sich auch an Bowdens 14-jähriger Tochter Nancy (Lori Martin) zu vergehen, ein Thema, das zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Films in Großbritannien der Zensur zum Opfer fiel.

Polly Bergen (2012)
Positiv hervorzuheben an diesem Film sind vor allem die Schauspieler. Robert Mitchum verkörpert hier zum zweiten Mal nach Die Nacht des Jägers (1955) den Bösewicht und macht mit seinem unvergleichlichen Schauspiel aus Cady eine ausgesprochen unangenehme Figur. Aber auch Gregory Peck, Polly Bergen (die seine Frau Peggy spielt) und Lori Martin können in ihren Darstellungen vollauf überzeugen. Großartig ist auch die Filmmusik des Komponisten Bernard Herrmann, der zwei Jahre zuvor den berühmten Score zu Alfred Hitchcocks Psycho verfasst hatte. Doch der Vergleich zu Hitchcocks Meisterwerk zeigt auch, was Cape Fear fehlt, um wirklich vollends zu überzeugen. Während in Psycho die überraschenden Wendungen in der Story und der psychologisch vielschichtig angelegte Mörder selbst heute noch beeindrucken können, ist Thompsons Thriller im Endeffekt dann doch zu eindimensional und vorhersehbar, um sich mit dem Master of Suspense messen zu können.

Insgesamt ist Ein Köder für die Bestie ein solide inszenierter Thriller mit tollen Schauspielern und einer großartigen Filmmusik, dem es jedoch ein wenig an Überraschungen und Tiefe fehlt, um auch heute noch völlig überzeugen zu können.

Urheber des Fotos von Polly Bergen ist David Shankbone. Es steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 3.0 Unported (CC BY 3.0).

Freitag, 9. August 2013

Filmkritik: Die Unbestechlichen (1976)

Heute vor 39 Jahren, am 9. August 1974, trat Richard Nixon als erster Präsident der Vereinigten Staaten von seinem Amt zurück. Ursache war der sogenannte Watergate-Skandal: Mehrere illegale Praktiken der Regierung wurden aufgedeckt, zu denen u.a. die versuchte Verwanzung der Zentrale einer Unterorganisation der Demokratischen Partei gehörte. Einen erheblichen Anteil an der Aufklärung dieser Affäre hatten zwei Journalisten der Washington Post, deren Geschichte in dem Polit-Thriller Die Unbestechlichen erzählt wird.

Manche Filme sind zeitlos. Wenn man einen Western aus den 40er Jahren anguckt, dann mag dieser stellenweise etwas angestaubt wirken, doch grundsätzlich ist solch ein Film heute noch genauso leicht zu konsumieren wie bei seiner Premiere. Der Kampf eines gutherzigen Sherrifs gegen ehrlose Banditen ist heute genauso spannend anzusehen wie damals und es wird kaum Hintergrundwissen zu den gezeigten Ereignissen vorausgesetzt.

Regisseur Alan J. Pakula (1990)
Andere Filme richten sich jedoch deutlich an ein zeitgenössisches Publikum. Ein Beispiel hierfür ist der Polit-Thriller Die Unbestechlichen von 1976. Zum Zeitpunkt seiner Premiere war die Watergate-Affäre in den USA bereits jahrelang in Presse und Fernsehen ausgebreitet worden und so konnten Regisseur Alan J. Pakula und Drehbuchautor Wiliam Goldman von genug Vorwissen ausgehen, um nicht die ganze Geschichte nacherzählen zu müssen, sondern sich stattdessen auf zwei Individuen konzentrieren zu können, die eine wichtige Rolle in der Aufklärung des Skandals spielten. So verfilmten sie das Sachbuch All the President's Men (dt. Die Watergate-Affäre), in der die beiden Journalisten Carl Bernstein und Bob Woodward berichten, wie sie eine der größten Verschwörungen der amerikanischen Geschichte aufdeckten. Doch heute, beinahe 40 Jahre später, sind die Namen der in den Skandal involvierten Politiker weitgehend unbekannt, wodurch der Film inzwischen teilweise schwer verständlich ist.

Die Unbestechlichen beginnt mit dem Einbruch in den Watergate-Gebäudekomplex in Washington D.C. am 17. Juni 1972. Fünf Männer versuchen, in die Zentrale des Democratic National Comittee einzudringen und diese mit Abhöreinrichtungen zu versehen, doch sie werden entdeckt und verhaftet. Vor Gericht verweigern die Männer die Aussage und die Hintergründe bleiben daher vorerst unklar. Doch zwei Reporter der Washington Post, Carl Bernstein (Dustin Hoffman) und Bob Woodward (Robert Redford), finden bei ihren Recherchen Hinweise darauf, dass Mitarbeiter von Nixons Committee for the Re-Election of the President die Fäden gezogen haben könnten. Doch die wenigen Menschen, die bereit sind, mit den Journalisten über das Thema zu sprechen, wollen anonym bleiben und Chefredakteur Ben Bradlee (Jason Robards) ist daher zuerst zögerlich, ob diese schweren Anschuldigungen wirklich den Weg in seine Zeitung finden sollten...

Robert Redford (2005)
Nach und nach wird die Verschwörung durch die beiden Protagonisten aufgeklärt. Die Schwierigkeit, dem Ganzen zu folgen, wenn etliche Namen genannt werden, die man noch nie zuvor gehört hat, macht den Filmkonsum keineswegs zu einer entspannten Angelegenheit. Dennoch ist der Film auch heute noch ausgesprochen sehenswert. Obwohl manchmal der Eindruck entsteht, dass in Die Unbestechlichen fast ausschließlich telefoniert wird, schafft es Pakula, eine ungeheure Spannung zu entwickeln. Dies liegt auch an den großartigen Hauptdarstellern, die ihre Figuren überzeugend verkörpern, so dass sich deren Aufregung, Anspannung und Begeisterung schnell auf das Publikum überträgt. Pakula unterstützt die hervorragende Arbeit seiner Schauspieler, indem er ihnen in langen ungeschnittenen Einstellungen Gelegenheit zur Entfaltung gibt. Herzstück des Films ist daher auch eine sechsminütige Einstellung, in der Woodward in einem langsamen Zoom gezeigt wird, während er telefonisch eine wichtige Information enthält. Redford spielt hier so großartig, dass sogar ein Versprecher des Schauspielers nicht herausgeschnitten wurde: Er nennt seinen Gesprächspartner beim falschen Namen und korrigiert sich kopfschüttelnd, doch da Redford seine Rolle nicht verlässt, wirkt dieser Fehler wie ein bewusstes Stilmittel, um die Aufgeregtheit der Figur zu verdeutlichen.

Auch die Nebenrollen sind perfekt besetzt. Neben Jason Robards, der für seine Rolle als Chefredakteur den Oscar erhielt, können auch Martin Balsam und Hal Holbrook (die bereits in Die zwölf Geschworenen zusammenarbeiteten) als erfahrene Redaktionsmitglieder überzeugen. Das ebenfalls mit einem Academy Award ausgezeichnete Szenenbild von George Jenkins und George Gaines stellt die Redaktionsräume der Washington Post in perfektionistischer Detailgenauigkeit nach (selbst die Schreibtische stammten vom selben Hersteller wie die Originale) und Kameramann Gordon Willis inszeniert das Großraumbüro in Bildern mit einer beeindruckenden Tiefenwirkung.

Richard Nixons Vereidigung 1973
Das Ende des Films könnte auf einige Zuschauer etwas abrupt wirken, denn die Handlung bricht in dem Moment ab, in dem Nixon zu seiner zweiten Amtszeit vereidigt wird und die beiden Journalisten gerade an dem Artikel schreiben, der dazu beigetragen hat, dass diese von nur kurzer Dauer war. Alle weiteren Ereignisse werden lediglich in kurzen Agenturmeldungen zusammengefasst. Doch dies ist letztendlich nur logisch, denn schließlich handelt es sich nicht um einen Film über Richard Nixon oder über Watergate, sondern um einen Film darüber, welchen Anteil Bernstein und Woodward an der Aufklärung des Skandals hatten.

Ohne Hintergrundwissen ist es nicht immer leicht, der Story von Die Unbestechlichen zu folgen und das Ende könnte auf Zuschauer, die mit dem Watergate-Skandal nicht im Detail vertraut sind, unbefriedigend wirken. Doch wenn man sich darauf einlässt, dass hier nicht der Skandal selbst sondern die journalistische Arbeit der beiden Protagonisten im Vordergrund steht, wird man mit einem Film belohnt, der ohne Frage als einer der besten Polit-Thriller aller Zeiten bezeichnet werden kann.

Urheber des Fotos von Alan J. Pakula ist Towpilot. Es steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported (CC BY-SA 3.0).
Urheber des Fotos von Robert Redford ist Steve Jurvetson. Es steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung 2.0 US-amerikanisch (nicht portiert) (CC BY 2.0).

Donnerstag, 1. August 2013

Filmkritik: Paulette (2012)

Schon die zweite Woche in Folge auf Platz 1 der deutschen Arthouse-Charts: Die französische Komödie Paulette erzählt von einer alten Dame, die beginnt, ihre Rente durch Drogenhandel aufzustocken.
Bernadette Lafont (2012)

Seit der Pleite ihres Restaurants und dem Tod ihres Ehemanns lebt Paulette (Bernadette Lafont) alleine mit einer niedrigen Rente in einer heruntergekommenen französischen Vorstadt. Die alte Frau ist nicht gerade eine Sympathieträgerin: Sie hat für die meisten Menschen aus ihrer Umgebung nur Verachtung übrig und ist so rassistisch, dass sie nicht einmal mit ihrem dunkelhäutigen Enkel etwas zu tun haben möchte. Eines Tages beschließt Paulette, mit Marihuana zu handeln und wird mit ihren Space Cookies schnell zur erfolgreichsten Dealerin des Viertels. Der beachtliche Nebenverdienst wird schnell in Luxusgegenstände und Kleidung investiert, führt jedoch auch zu einer Reihe von Konflikten. So sind die anderen Dealer des Viertels keineswegs erfreut über die neue Konkurrenz und Paulettes bei der Polizei arbeitender Schwiegersohn Ousmane (Jean-Baptiste Anoumon) droht, der alten Dame auf die Schliche zu kommen...

Das erste Drittel dieser französischen Komödie von Jérôme Enrico ist ausgesprochen unterhaltsam. Dies liegt vor allem an der politisch inkorrekten Protagonistin, die man eigentlich nicht mögen möchte, die einem aber vor allem wegen der tollen Hauptdarstellerin Bernadette Lafont schnell ans Herz wächst. Sprüche wie Paulettes Aussage gegenüber ihrem dunkelhäutigen Priester „Sie hätten es wirklich verdient, weiß zu sein“ schaffen die schwierige Gratwanderung, die ausländerfeindliche Einstellung der Protagonistin humorvoll darzustellen, ohne jemals selbst in rassistische Stereotype zu verfallen. Was den Beginn des Films auch von anderen Komödien der letzten Jahre abhebt, ist die sozialkritische Komponente der Ausgangssituation. Denn es wird sehr deutlich gemacht, dass der einzige Grund für Paulettes Einsteig ins Drogengeschäft eine viel zu niedrige Rente ist, die sie sogar dazu zwingt, in Mülltonnen nach Lebensmitteln zu wühlen.

Im Laufe der Handlung wird jedoch bald deutlich, dass das bereits durch ähnliche Filme wie etwa die britische Komödie Grasgeflüster (2000) bearbeitete Thema über ältere Frauen, die ins Drogengeschäft einsteigen, nur wenig Potenzial für einen wirklich interessanten Spielfilm beherbergt. So bewegt sich die Geschichte auf relativ vorhersehbaren Pfaden und auch die sozialkritischen Aspekte werden bald in den Hintergrund gedrängt. Besonders schade ist es, dass sich Enrico entschlossen hat, seine Protagonistin eine Entwicklung durchmachen zu lassen, die sie all jener Charaktereigenschaften beraubt, die sie zu Beginn des Films noch ausgezeichnet haben. Wenn aus der rassistischen und asozialen alten Frau eine liebende Großmutter wird, ist das sicherlich schön, aber leider auch eine ziemlich konservative und mutlose Entscheidung der Filmemacher. Dass das dramatische Finale des Films dann schließlich nicht die emotionale Tragweite erhält, die eigentlich angemessen wäre und zudem ziemlich unglaubwürdig inszeniert wird, ist zusätzlich ärgerlich.

Paulette ist eine vergnügliche französische Komödie die sich vor allem zu Beginn durch ihre politisch unkorrekte Protagonistin und eine sozialkritischen Botschaft von vergleichbaren Filmen abhebt. Im weiteren Verlauf verliert der Film jedoch schnell seinen Biss und steuert zwar weiterhin unterhaltsam aber auch relativ überraschungsarm seinem unambitioniert inszenierten Finale entgegen.


Urheber des Fotos von Bernadette Lafont ist der Wikipedia-Benutzer Frantogian. Es steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported (CC BY-SA 3.0).